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Geschichten aus dem Leben > Legasthenie


An meine Schulzeit denke ich mit gemischten Gefühlen zurück.
Eigentlich hatte ich mich sehr auf die Schule gefreut, schon als Kindergartenkind war ich begeistert gewesen, Neues zu lernen. Aber als ich dann in die Volksschule kam, war ich bald schon bitter enttäuscht. Denn während die anderen Kinder scheinbar mühelos Buchstaben und Zahlen in ihre Hefte schrieben, herrschte in meinem Kopf das totale Chaos. Ich bekam die vielen Zeichen einfach nicht auf die Reihe, ständig verselbständigten sich die Buchstaben vor meinen Augen. Obwohl ich mich so bemühte, konnte ich den Zusammenhang einfach nicht erkennen.
„Du musst dich mehr anstrengen“, war ein Satz, den ich damals oft gehört habe, wenn meine Eltern wieder mal komplett genervt versucht haben, mit mir zu lernen. Geholfen hat das allerdings nicht viel, meistens kam am Ende in Deutsch doch nur ein „Genügend“ dabei heraus. Meine Aufsätze und Diktate waren voll von roten Korrekturen und auch das Lesen bereitete mir Probleme.

So habe ich mich durch die Volksschule gekämpft und als ich zehn Jahre alt war, war an einen Übertritt ins Gymnasium nicht zu denken. Deutsch und Englisch fielen mir schon schwer genug, eine zweite Fremdsprache hätte mich komplett überfordert. In allen anderen Fächern hatte ich gute Noten, aber das interessierte damals niemanden. Besser wurde es erst in der zweiten Klasse Hauptschule. Da hatte ich dann einen neuen Klassenvorstand, der endlich verstanden hat, was mit mir los war.

„Ihr Sohn ist Legastheniker“, hat er meiner Mutter gleich beim ersten Elternsprechtag gesagt. Obwohl ich damals nicht wirklich verstanden habe, was das bedeutet, habe ich bemerkt, dass da jemand war, der mich nicht für dumm oder faul gehalten hat.
„Minderbegabt“ war das Wort, das ich bis dahin oft zu hören bekommen hatte.
Das war noch halbwegs freundlich ausgedrückt, andere nannten mich einfach begriffsstutzig und eine Lehrerin hat sogar gemeint, es wäre besser, mich auf die Sonderschule zu schicken. Wenn ich heute daran zurück denke, glaube ich, dass die meisten Schulen mit dem Thema Legasthenie total überfordert waren. Viele Lehrer wussten ganz einfach nicht, wie sie mit Schülern wie mir umgehen sollten. Aber zum Glück war mein damaliger Klassenvorstand anders, denn er war es auch, der meine Eltern nicht nur über meine Lese- und Rechtschreibschwäche aufklärte, sondern ihnen auch noch den Rat gab, mich einem Intelligenztest zu unterziehen. Das Ergebnis war dann eindeutig.
„Ihr Sohn ist absolut nicht dumm. Er hat einen sehr hohen IQ.“

Ab da ist es dann bergauf gegangen.
Endlich wussten meine Lehrer, worauf sie bei mir achten mussten. Und obwohl ich nie ein Vorzugsschüler wurde, bin ich schließlich doch ganz gut durch die Schule gekommen. Zu verdanken war das auch meiner Nachhilfelehrerin für Deutsch und Englisch, die schon damals auf die Arbeit mit legasthenischen Kindern spezialisiert war. Sie wusste, dass Legasthenie eine ererbte oder erworbene Schwäche ist, die das Erlernen der Schriftsprache stark erschweren und behindern kann.
„Ich möchte, dass du später einmal das erreichst, was deiner Intelligenz entspricht.“
An diesen Satz von ihr kann ich mich heute noch sehr gut erinnern und ich bin ihr dankbar für ihre Geduld. Und auch mein Klassenvorstand hat mich dabei unterstützt, meine Talente auszuleben und nicht nur auf meine Schwächen zu achten.

Sogar meine Mitschüler haben im Laufe der Zeit begriffen, dass es unfair ist, jemanden auszulachen, der mit dem Lesen und Schreiben Probleme hat. Kinder können manchmal sehr grausam sein, wenn die Erwachsenen ihnen nicht erklären, warum jemand „anders“ ist. Größere Schulängste und Verhaltensauffälligkeiten sind mir glücklicherweise erspart geblieben, aber ich kenne einige Legastheniker, die wegen ihrer Schwächen gemobbt wurden und auch noch als Erwachsene unter ihren schlechten Erfahrungen in der Kindheit leiden.
Schwierig wurde es für mich erst wieder, als ich nach einer dreijährigen Fachschule auf der Suche nach einem Job war. Denn in der Fachschule konnte ich mich auf meine technischen Begabungen stützen, aber danach verlangten alle Unternehmen einen schriftlichen Aufnahmetest. Natürlich habe ich meine Eltern gebeten, meine Bewerbungen erst mal Korrektur zu lesen, aber wenn die Personalchefs beim Ausfüllen der Aufnahmeformulare vor Ort bemerkten, dass meine Rechtschreibung alles andere als fehlerfrei war, war ich gleich unten durch. Das Gute an der Sache war allerdings, dass ich dadurch recht rasch gelernt habe, Fremden gegenüber ehrlich zu sein. Wenn ich einen Termin für ein Vorstellungsgespräch bekommen habe, habe ich nach einigen Reinfällen schließlich ganz offen erklärt, dass ich Legastheniker bin.

Manche Gesprächspartner wussten gar nicht, was das ist und natürlich haben auch Vorurteile eine große Rolle gespielt. Aber ich bin hartnäckig geblieben und habe den Leuten erklärt, dass ich nicht „zu dumm“ zum Lesen und Schreiben bin und dass manche Legastheniker sogar sehr begabt sind. Und auch diejenigen, die keine Hochbegabung aufweisen, haben oft ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen, sind kreativ, technisch versiert und sozial kompetent. Trotzdem war ich damals oft frustriert, wenn am Ende doch wieder eine Absage kam. Aber da einer der Firmenchefs selbst eine Tochter hatte, die Legasthenikerin war, habe ich am Ende doch eine Chance bekommen. Zum ersten Mal konnte ich mich richtig beweisen und die Arbeit hat mir großen Spaß gemacht. So lange, bis ich mich ein paar Jahre später firmenintern für eine höhere Position beworben habe.

„Sie müssten regelmäßig Meetings und Präsentationen vor Kunden und Geschäftspartnern abhalten“, war die Erklärung meines Chefs, als ich nachfragte, warum ich trotz jahrelanger Firmenzugehörigkeit nicht in die engere Auswahl für die neu ausgeschriebene Führungsposition gekommen war.
„Es tut mir leid. Sie wissen, dass ich Sie als Mitarbeiter sehr schätze. Aber in einer Führungsposition hinterlassen Rechtschreibfehler einfach einen schlechten Eindruck.“ Kopfschüttelnd schaute mein Vorgesetzter mich an.
An diesem Tag bin ich frustriert und ziemlich ernüchtert nach Hause gegangen. Sollte ich das einfach so zur Kenntnis nehmen?

„Legasthenie zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten. Einige unserer Kunden sind daher vermutlich selbst Legastheniker.“
Mein Boss schaute mich irritiert an, als ich ihn einige Tage später mit ein paar Fakten konfrontierte. Aber ich ließ mich nicht beirren und wies ihn darauf hin, dass es durchaus Menschen gab, die trotz Legasthenie Karriere machten.
„Darunter sind auch etliche Berühmtheiten. Angeblich war sogar Albert Einstein Legastheniker. Das kann man alles im Internet nachlesen.“
Und dann erzählte ich ihm auch noch, dass es sogar Erfinder und Naturwissenschaftler gab, die unter einer ausgeprägten Rechenstörung litten, etwa Thomas Edison und Benjamin Franklin.
„Das nennt man dann übrigens Dyskalkulie.“
Hoffnungsvoll schaute ich ihn an.

„Das mag alles sein. Trotzdem sind ständige Rechtschreibfehler einfach nur peinlich!“
Da hatte er natürlich Recht. Sogar meine Frau hat mir Jahre später mal gestanden, wie irritiert sie kurz nach unserem Kennenlernen war, als sie meine ersten SMS gelesen hat. Damals habe sie mich zwar sympathisch gefunden, allerdings nicht unbedingt intelligent. Kein Wunder, ich kann einfach nichts dagegen tun, dass ich manchmal Fallfehler mache, beim Schreiben eines Satzes ein Wort weglasse oder Probleme mit dem stummen H habe.
„Wer nämlich mit H schreibt, ist dämlich“, war der Spruch, der ihr damals eingefallen sei. Und auch die Einladung, gemeinsam mit mir einen „Varrat-Ausflug“ zu machen, ist nicht unbedingt gleich auf Begeisterung gestoßen. Und natürlich ist es mir auch bei beruflichen Terminen schon passiert, dass ich jemandem eine falsche Uhrzeit nenne, weil ich die Zahlen in der falschen Reihenfolge aufschreibe. Deshalb habe ich mir angewöhnt, wichtige E-Mails von Kollegen durchlesen zu lassen, bevor ich sie abschicke. Und nach wie vor habe ich Probleme, auf einem Amt ein Formular fehlerfrei auszufüllen.

Vielleicht hatte mein Boss ja wirklich Recht und ich war für die Beförderung ungeeignet?
Bisher war meine Arbeit auf den technischen Bereich beschränkt gewesen, mit längeren Texten und wichtigen Korrespondenzen hatte ich nicht allzu viel zu tun gehabt. Auch meine Kundenkontakte hatten sich bislang in Grenzen gehalten. Würde der Kontroll- und Korrekturaufwand in der neuen Position zu hoch sein? Immerhin war es eine Sache, einen Kollegen ab und zu mal zu bitten, einen kurzen Brief vor dem Versenden noch mal genau durchzulesen, aber wenn es um seitenlange Präsentationen ging? Wäre ich mein Geld dann noch wert? Andererseits hatte ich in der Vergangenheit schon oft bewiesen, dass ich persönlichen Einsatz zeigen kann und bereit bin, für meine Erfolge hart zu arbeiten.

„Jedenfalls werde ich nicht anfangen, mich zu verstellen!“
Als ich ein paar Tage später mit meiner Frau noch einmal über alles sprach, war ich fest entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen. Ganz egal, ob ich die Stelle nun bekommen würde oder nicht: Ich würde nicht lügen und mich auch nicht durchschwindeln. Denn natürlich ist es naheliegend, die eigenen Schwächen zu verstecken. Am Ende kommen sie aber doch heraus. Und die Blamage wollte ich mir nicht antun. Denn auch, wenn es mittlerweile automatische Rechtschreibkorrekturen gibt, kann ein Computerprogramm natürlich nicht alles ersetzen.
„Wenn es sein muss, erkläre ich allen Geschäftspartnern, dass ich Legastheniker bin.“
Und genau das habe ich dann auch getan. Denn zu meiner großen Überraschung habe ich die Stelle dann doch bekommen.

„Es gefällt mir, dass Sie ehrlich sind und für sich einstehen.“
Total überrascht schaute ich meinen Vorgesetzten an. Aber dann erklärte er mir, dass er nach einiger Überlegung zu dem Schluss gekommen sei, dass es Unsinn wäre, einen erfahrenen Mitarbeiter bei einer wichtigen Beförderung zu übergehen. Scheinbar hatte er nach unserem letzten Gespräch ernsthaft Sorge gehabt, dass ich mich anderswo bewerben könnte. So weit hatte ich noch gar nicht gedacht, aber trotzdem war ich froh, dass ich nicht aufgegeben, sondern für meine Ziele gekämpft hatte. Denn immerhin ist auch das, trotz aller Schwächen, eine Fähigkeit, auf die es im Berufsleben ankommt.



* Die Personen und die Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Spezielle Schreibweisen (Fachbegriffe, Gender-Bezeichnungen usw.) wurden in der von der Autorin übermittelten Form übernommen.

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